Die iranische Arbeiterbewegung im vergangenen Jahr, ein Rückblick
Das vergangene Jahr 1399 (21. März 2020 bis 20. März 2021) war gekennzeichnet durch landesweite Proteste und Streiks der iranischen Arbeiter:innen. Trotz der Verschärfung von Repression und Unterdrückung, die sich in gerichtliche Vorladungen, Festnahmen, Verhör und Drohungen, Entlassungen, Haftstrafen und sogar Auspeitschungen ausdrückte, stand die iranische Arbeiterklasse an der Spitze der Massenproteste gegen die herrschende Klasse im Iran.
Es kam zu Hunderten Streiks in großen und kleinen Betrieben und unterschiedlichen Branchen. Eisenbahnen , Elektrizitätswerke, Telekommunikation, Transportwesen, Petrochemie, Agroindustrie, Bergbau, Stahl-, Erdöl- und Erdgasindustrie waren genauso betroffen wie die Stadtwerke.
Wir wollen an dieser Stelle einige für die iranische Arbeiterklasse tendenziell wichtigen Streiks näher betrachten.
Am 04.05.2020 begann der Streik von 3500 Arbeiter:innen von Kohlebergbau in Kuhbanan, Zarand und Ravar in Provinz Kerman, der 10 Tage dauerte. Während des Streiks schlossen sich die Familien der Streikenden im relativ großen Umfang dem Protest an und haben die Streikenden unterstützt, in dem sie sich Tag und Nacht vor dem Firmensitz und dem Büro des Gouverneurs versammelten. Selbst die tödliche Corona-Pandemie konnte die Betroffenen am Protest nicht hindern.
Die Arbeiter:innen von HEPCO und der Stahlindustrie in Ahwaz waren trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse ebenfalls recht aktiv. Ihre Streiks und Straßenproteste führten 2018 zu einem Wechsel der Unternehmer und Änderungen in Management und der Verwaltung dieser Betriebe. Das hat jedoch die Situation der Arbeitenden und die Arbeitsbedingungen nicht verbessert. Die Regierung weigerte sich, die volle Verantwortung für diese Unternehmen zu übernehmen. Die Unsicherheit und das Risiko einer Entlassung blieben bestehen.
In HEPCO wurde drei Wochen lang gestreikt. Trotz Drohungen und Repression wurden in einigen Fällen die Eisenbahnschienen besetzt.
Die Stahlarbeiter:innen haben ebenfalls mehrfach Proteste organisiert. Im Sommer 2020 organisierten sie einen großen Streik. Am 02.01.2021 haben sie durch eine mutige Aktion einige korrupte und arbeiterfeindliche Führungskräfte des Unternehmens rausgeschmissen.
Die betrachteten Beispiele zeigen, dass neben wichtigen wirtschaftlichen Forderungen unabhängige Arbeiterorganisationen und die Ablehnung von Privatisierungen zu den wichtigsten Forderungen der Arbeiter:innen zählen.
An dieser Stelle wollen wir uns auch mit dem Kampf der Arbeiter:innen von Haft-Tappeh befassen, der fast das ganze Jahr dauerte. Die zentrale Forderung war die Absetzung von dem Unternehmer Assad Beigi. Er steht wegen zahlreicher Verstöße, Korruption, Veruntreuung, Bestechlichkeit und Bestechung von zahlreichen Bankmanagern, Regierungsbeamten einschließlich des Gouverneurs der Provinz Khuzestan vor Gericht. Am 18.05.2020 begann die Gerichtsverhandlung.
Am 15.06.2020 begann dann der 70 Tage dauernde Streik von Arbeiter:innen von Haft-Tappeh, der von Straßenprotesten begleitet wurde. Dieser Streik hatte eine große Resonanz und wurde u. a. von mehreren unabhängigen Arbeiterorganisationen, Studierenden, Lehrkräften und Rentner:innen unterstützt. Das hat neben dem Bergarbeiterstreik die politische Atmosphäre massiv beeinflusst. Daher wurde alles in den Gang gesetzt, um diesen Streik zu beenden. Alle Tricks wurden ausprobiert. Selbst die Festnahme von vier Arbeitern am 14.07.2020 und Einschüchterungsversuche konnte den Streik nicht beenden. Die Streikenden ließen sich nicht spalten.
Zum Schluss griff eine Parlamentskommission ein und nach einigen Gesprächsrunden und Scheinverhandlungen wurde die Entscheidung an die Schiedsstelle der für Privatisierungen zuständige Behörde übertragen .
Der Streik und die Versuche, ihn mit allen Mitteln zu verhindern und zu beenden, gingen weiter. Am 29.10.2020 wurden weitere 4 Arbeiter festgenommen und in das Gefängnis von Dezful überstellt. Der Kampf der Streikenden für die inhaftierten Kollegen wurde ausgeweitet. Am 04.11.2020 wurden sie schließlich freigelassen. Einen Tag später wurde der Betrieb von Sicherheitskräften besetzt. Zu bisherigen Maßnahmen kam nun auch, dass die Löhne nicht mehr ausgezahlt wurden . Streikende wurden von Disziplinarkomitee vorgeladen und 15 Arbeitern wurde der Zugang zum Betrieb verweigert. Parallel liefen seitens der Unternehmen zahlreiche Versuche, um die Entscheidung der Schiedskommission zu beeinflussen.
Es gab auch Illusionen unter den Streikenden über die Parlamentskommission, dem Leiter der Justiz sowie der Schiedsstelle. Die erfahrenen und führenden Arbeiter:innen, angeführt von Esmail Bakhshi, riefen daher zu einer Kundgebung vor dem Justizgebäude in Teheran auf und starteten eine Internetkampagne #Absetzung von Assad Beigi, die viel Unterstützung und Zustimmung fand. Ihr Aufruf zur Kundgebung fand große Unterstützung.
Die Slogans richteten sich gegen Privatisierungen, die eine wichtige Säule der Politik der islamischen Republik darstellen . Das zeigt eine eindeutige politische Ausrichtung, deren Hauptantriebskraft die Arbeiter:innen sind. Auf der Kundgebung vor Justizgebäude skandierten sie den Slogan “Brot, Arbeit, Freiheit – Verwaltung durch Räte”. Das zeigt, dass Arbeit, Brot und Freiheit eine allgemeine Forderung darstellen und Räte als Alternative ihre Position in der Bewegung von Arbeiter:innen und Werktätigen etabliert haben.
Ein weiteres wichtiges Ereignis der iranischen Arbeiterbewegung im vergangenen Jahr war das Bündnis, um die landesweiten Proteste von Rentner:innen sowie dem Kampf um Mindestlohn zu unterstützen.
Mitte Februar 2021 hatten die Gewerkschaften von Busfahrer:innen (Vahed), Haft-Tappeh sowie sieben weiteren Organisationen wie von Rentner:innen und Lehrer:innen in einer gemeinsamen Erklärung einen Monatslohn oberhalb der Armutsgrenze verlangt. Die Bedeutung dieses Ereignisses liegt in der konkreten Unterstützung der Aktionen durch direkte Teilnahme an ihnen. Es ist eine Art Bündnis zwischen Arbeiterorganisationen, Lehrerverbänden, Rentner:innen und denen entstanden, die sie unterstützen.
Das wichtigste Ereignis im vergangenen Jahr war wohl der Einstieg von Erdölarbeiter:innen in die öffentlichen Massenproteste und Streiks.
Am 29.06.2020 streikten einige Hundert Erdölarbeiter:innen mit offiziellen Arbeitsverträgen im Namen von 20000 Kolleginnen und Kollegen und protestierten vor dem Erdölministerium. Einen Monat später wurde durch eine koordinierte Aktion in Dutzenden Betrieben dieser Industriebranche zeitgleich die Arbeit niedergelegt. Die Belegschaft von dutzenden Raffinerien und dazugehörigen Betrieben haben diese Proteste unterstützt. Neben wichtigen wirtschaftlichen Forderungen wurden konkrete politische Forderungen gestellt . Ein Ende der Sicherheitsvorkehrungen (die Präsenz von Sicherheitskräften, Überwachung etc.), Kriminalisierung sowie die Forderung nach einer unabhängigen Organisation.
Die Erdölarbeiter:innen haben ihre Bereitschaft signalisiert, ihre unersetzliche Rolle in der iranischen Arbeiterbewegung zu spielen.
Zum Schluss wollen wir die Schwächen und Stärken der iranischen Arbeiterbewegung näher betrachten.
Trotz teilweise lang anhaltender Streiks und zahlreichen Protesten waren einige Branchen wie die Automobilindustrie überhaupt nicht präsent. Die Rolle von Petrochemie war begrenzt. Ein Jahr zuvor betraf das die Erdölarbeiter:innen. Wir hoffen, dass diese genannten Branchen im neuen Jahr eine deutliche Präsenz zeigen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Fehlen von unabhängigen Arbeiterorganisationen. Diese dringende Forderung wurde bei allen Streiks und Protesten erhoben. Für ihre Realisierung sind ernsthafte praktische Maßnahmen erforderlich. Die fortschrittlichen und bewußten Arbeiter:innen müssen hierbei die Führung übernehmen.
In Erdölindustrie sind die ersten Schritte für die Einrichtung einer koordinierenden Organisation unternommen. Das kam durch ihren allgemeinen und übergreifenden Streik zum Ausdruck.
Ein weiterer Schritt in dieser Richtung war die gemeinsame Erklärung für den Mindestlohn im laufenden Jahr.
Die Erkenntnis über eine Notwendigkeit ist nur der erste Schritt. Der wichtigere Teil sind natürlich die praktischen Schritte für ihre Realisierung. Es geht um eine sehr komplexe Aufgabe. Die Schwierigkeiten und Hindernisse können nur in der Praxis erkannt und bewältigt werden.
Die Organisationen von Rentner:innen mit mehr als 10 landesweiten Aktionen haben gezeigt, dass durch die richtige Kombination von öffentlicher und geheimer Arbeit der Aufbau von unabhängigen Organisationen wie denen von Rentner:innen machbar sind und damit die herrschende politische Tyrannei umgangen werden kann.
Unzureichende Mobilität und Sensibilität ist eine weitere Schwäche der vorhandenen Arbeiterorganisationen. Das ist größtenteils durch die autoritäre und repressive Machtstruktur des Regimes der islamischen Republik bedingt. Trotzdem können die bestehenden Organisationen auf Proteste und Streiks in anderen Betrieben und Branchen sensibler reagieren und diese unterstützen.
Der politische und regierungsfeindliche Charakter der Arbeitskämpfe wurde im vergangenen Jahr deutlicher hervorgehoben. Das ist eine wichtige Stärke der Arbeiterbewegung. Explizit wurde gegen die Privatisierungspolitik Widerstand geleistet. Slogans und Forderungen wurden konkreter formuliert. Die Parolen gegen die Regierenden wurden bis auf den Präsidenten ausgedehnt.
Eine Betrachtung der Arbeiterbewegung zeigt, dass die Arbeiterklasse nicht nur ein wesentlicher Bestandteil jedes revolutionären Wandels ist, sondern sie ist das Zentrum und die treibende Kraft einer solchen Umwälzung.
Die vorangegangenen Streiks und Proteste stellen den Beginn einer neuen Phase im Kampf der iranischen Arbeiterbewegung und ein bedeutender Schritt vorwärts dar.
Artikel aus KAR Nummer 914, erschienen am 04. April 2021